Das Stockdale Paradox
9. September 2010 von admin
Den Glauben behalten, dass man am Ende siegt – egal, wie schwierig es wird. Und gleichzeitig sich den brutalen Tatsachen der momentanen Situation stellen – egal, wie unerfreulich sie sind. Die Krux des „Stockdale Paradox“ entstammt Jim Collins‘ Richtung weisendem, ich will mal sagen Management-Philosophie-Buch „Good to great – why some companies make the leap and others don’t“ und handelt von persönlichem Lebensmut, der aus dem gelungenen Spagat zwischen unerschütterlichem Glauben und mutigem Pragmatismus entsteht.
Jim Stockdale war im Vietnamkrieg ein ranghoher, amerikanischer Offizier. Nach seiner Gefangennahme und Deportation in ein Kriegsgefangenenlager in Hanoi durchstand er mit Kameraden acht Jahre härteste Lebensumstände, Erniedrigung und über 20-fache Folterung bis zu seiner Befreiung im Jahr 1973. Im Laufe seiner Gefangenschaft lebte Stockdale seinen militärischen Leitwolf-Status und entwickelte sich zum Anführer der dort befindlichen Soldaten. Sein Leben in Hanoi war wohl objektiv nur als hoffnungslos zu bezeichnen. Aber gerade von den Grenzgängern ist so viel zu lernen.
Stockdale hatte wie seine Kameraden natürlich keine klassischen Kriegsgefangenen-Rechte. Ob er Frau und Kinder je wiedersehen würde, war mehr als ungewiss. Trotz aller Repressionen aber entschied er, seine Situation anzupacken – soweit möglich – und er übernahm einvernehmlich das Kommando im Gefangenenlager. Man berichtet von einer Situation, in der Stockdale sich selbst mit einem Hocker verprügelte und sich mit einer Rasierklinge Verletzungen zufügte, nur um nicht für Propagandazwecke als „ordentlich behandelter Häftling“ gefilmt zu werden. Briefe an seine Frau versah er mit Geheimbotschaften, wohl wissend, dass er bei Aufdeckung ggf. mit dem Tod bestraft würde.
Subjektiv sinnvoll sein: Für sich UND andere
Viel mehr als nur Maximen für sein eigenes psychisches und physisches Überleben entwickelte bzw. gab Stockdale seinen Kameraden. So legte er Regeln fest, die seinen Mitgefangenen helfen sollten, schlicht bestmöglich zu über-leben. Eine Richtlinie sollte auf intelligente Weise die regelmäßigen Folterungen erträglicher zu gestalten – so absurd das klingen mag: Aufgrund der kristallklaren Erkenntnis, dass niemand endlose Martern aushalten kann, entwickelte er einvernehmlich ein Stufensystem, das es den Gefangenen erlaubte, nach einer gewissen Zeitspanne bestimmte Geheimnisse zu verraten. Mit solchen „Teilzielen“ vor Augen waren die Torturen leichter zu ertragen. Zudem schuf Stockdale ein morse-ähnliches Kommunikationssystem gegen die Isolationsfolter, das aus Klopfzeichen bestand. Es wird kolportiert, dass die Gefangenen einmal – es war offiziell „Schweigen“ befohlen – den Hof säuberten und mit den Besen unisono „We love you“ klopften.
Tatsächlich nahm die Geschichte ein Happy end. Stockdale und einige Mitgefangene kehrten anfangs der siebziger Jahre heim und der Leitwolf wurde zum Drei-Sterne-General der Navy befördert. Ohne den militärischen Pathos zu sehr zu betonen: Worum es uns im warmen Sessel irgendwo im beschützten Deutschland im Jahre 2010 bei der Geschichte geht, ist die unglaubliche Mischung aus Selbstvertrauen und Pragmatismus, die dem Anführer und vielen seiner Gefolgsleute faktisch das Überleben sicherte. Befragt, was die Quelle seiner schier übermenschlichen Kraft war, antwortete der Offizier: „Ich habe nie den Glauben an ein gutes Ende verloren. Und ich war fest davon überzeugt, rauszukommen und am Ende sogar als „Sieger“ dazustehen.“ Die gemachte Erfahrung, so Stockdale weiter – und auch das habe er bereits in Hanoi „gewusst“ – würde später zum Schlüsselerlebnis in seinem Leben werden.
Noch interessanter ist für uns im Rahmen eines Blogs über Motivationskunst – also der Fähigkeit sich zum Durchstarten und unerbittlichen Dranbleiben zu motivieren – Stockdales Antwort auf die Frage, wer es denn nicht geschafft habe aus dieser Vorhölle?!
Seine klare Antwort: „Die Optimisten.“ Diejenigen, die sich immer wieder schicksalhaften Pseudo-Hoffnungen hingaben, so der Kriegsheld. Dingen, die sie eben nicht in der Hand hatten wie zum Beispiel die eigene Heimkehr: ‚An Weihnachten bin ich zu Hause.‘ ‚An Ostern sehe ich meine Kinder.‘ ‚ … zum neuen Jahr komme ich hier raus.‘
Bei der ‚Moral von der Geschicht‘ tun wir uns fast ein wenig schwer in unserem dekadent anmutenden Bürostühlchen. Im beheizten Raum, das Mineralwasser griffbereit und die Espressomaschine in Riechweite: Das Stockdale-Paradox, wie es Jim Collins beschreibt, skizziert den wohl übergreifendsten und daher wichtigsten Spagat, das eigene Leben zu organsieren. Und zwar im Spannungsfeld zwischen unerschütterlichem Glauben an ein oder mehrere, erstrebenswerte und – natürlich selbst fest gelegte – Ziele. Und dem ganz unvoreingenommenen, unideologischen Beschäftigen mit den weltlichen Aufgaben und pragmatischen Anforderungen des alltäglichen Lebens auf dem Weg dorthin. Biss ist gefragt.
Alle Informationen aus diesem Artikel entstammen Quellen im Web und zuvorderst Jim Collins Werk. Das Buch ist mittlerweile auch auf Deutsch erhältlich mit dem einprägsamen Titel „Der Weg zu den Besten„.